K. Klausmeier: So eine richtige Diktatur war das nicht... Vorstellungen Jugendlicher von der DDR

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Titel
So eine richtige Diktatur war das nicht... Vorstellungen Jugendlicher von der DDR. Geschichtspolitische Erwartungen und empirische Befunde


Autor(en)
Klausmeier, Kathrin
Reihe
Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (20)
Erschienen
Göttingen 2021: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
426 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michèle Matetschk, Mitarbeiterin beim Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Das Wissen Jugendlicher über die DDR und ihre daraus resultierenden Einstellungen und Werturteile werden seit vielen Jahren in der Gesellschaft diskutiert. Kathrin Klausmeier hat sich der Thematik in ihrer Dissertation angenommen. Mit ihrer Studie So eine richtige Diktatur war das nicht … Vorstellungen Jugendlicher von der DDR. Geschichtspolitische Erwartungen und empirische Befunde präsentiert sie eine empirische Studie zu den Vorstellungen thüringischer Jugendlicher von der DDR. Die Autorin setzt ihre Befunde zudem in den Kontext vorangegangener, viel diskutierter Studien.

Im ersten Teil beschreibt sie neben dem theoretischen Rahmen und dem Forschungsdesign ihrer Studie vor allem den Forschungsstand und die Rahmenbedingungen des DDR-bezogenen Geschichtsunterrichts im thüringischen Lehrplan. Kathrin Klausmeier legt eine ausführliche Diskussion der Begriffe dar, die sich aus der Formulierung von Geschichtsvorstellungen notwendigerweise ergeben. So differenziert sie beispielsweise zwischen Geschichtsbildern, -bewusstsein und -vorstellungen. Ebenfalls ausführlich skizziert sie Methodik und Befunde vergangener Studien zu diesem Themenkomplex. In einem kurzen Abschnitt erläutert sie die Inhalte und Rahmen des thüringischen Lehrplans, um die Antworten der Jugendlichen in einen Kontext zu setzen und die curriculare Erwartungshaltung zu verdeutlichen.

Die Forschungsergebnisse werden dann im zweiten Teil präsentiert. Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um eine empirische Studie mit Mixed-Method-Design. Die Studie besteht aus einem quantitativen Teil, also einer Befragung von thüringischen Gymnasiast:innen der 11. Klasse mit geschlossenen und offenen Frageformaten. Die Antworten wurden später im Rahmen einer quantitativen Inhaltsanalyse wissenschaftlich ausgewertet. Zur besseren Falsifizierbarkeit der Beobachtungen aus dem ersten Teil schloss sich der quantitativen Befragung noch eine qualitative Erhebung im Rahmen einiger Einzelinterviews an. Dank bi- und multivariater Zusammenhangsanalyse konnten schließlich einige interessante Korrelationen beobachtet werden. Die Items der Fragebögen waren der Vergleichbarkeit halber teilweise an Fragebögen früherer Studien angelehnt, allerdings verzichtete Kathrin Klausmeier auf die Abfrage von Faktenwissen, wodurch sie sich deutlich von anderen Studien abhebt. Die Auswertung der quantitativen Befragung zeigt unter anderem, dass der Geschichtsunterricht für das Erlangen von DDR-spezifischem Wissen eine größere Rolle spielt als Unterhaltungen in der Familie. Kathrin Klausmeier erhob außerdem die Transformationserfahrungen der Familien, sowie die Wahrnehmung des Geschichtsunterrichts durch die Jugendlichen. Im Ergebnisteil sticht unter anderem die Auswertung der freien Assoziation ins Auge. Dort wird deutlich, dass die häufigste Assoziation der Jugendlichen zur DDR nicht etwa – wie nicht selten geschichtspolitisch formuliert – die Verklärung der Diktatur ist, sondern viel eher stark repressiv gekennzeichnete Elemente des SED-Staates. Die ersten drei Plätze belegen die Begriffe „Mauer“, „Stasi“ und „SED“.

Nach der Veröffentlichung der ersten Studie des Forschungsteams um Monika Deutz-Schroeder und Klaus Schroeder im Jahr 2008 hieß es vor allem in der medialen Öffentlichkeit oft, Schüler:innen wüssten wenig über die DDR und würden sie deswegen für ein „Sozialparadies“ halten.1 Diese Studie war zwar die am intensivsten rezipierte, jedoch nicht die einzige Studie zur Erhebung der Beziehung ostdeutscher Jugendlicher zur DDR. Kathrin Klausmeier reiht sich in die Tradition dieser Erhebungen ein, grenzt sich aber zugleich ganz klar von ihnen ab. So kritisiert sie „methodologische und methodische Mängel“ und dass die Studie „keinen Raum für Kontroversität“ ermögliche (S. 103, S. 109). Die wohl stärkste methodische Abgrenzung ist der Verzicht auf eine Abfrage vermeintlichen Faktenwissens. Stattdessen erhebt Klausmeier ihre Beobachtungen aus Assoziations-, Einschätzungs- und Dilemma-Fragen. Sie untersucht so nicht nur die Einstellungen der Jugendlichen, sondern auch deren Begründungen dafür. Dabei problematisiert sie die Differenz zwischen curricularem, politikgeschichtlich geprägtem Geschichtsunterricht und den familiär vermittelten, eher alltagsgeschichtlichen Erinnerungen an die DDR. Diese Unterscheide reiht sie in die DDR-Gedächtnisse nach Sabrow ein, nach denen im Kontext dieser Studie vor allem das „Diktaturgedächtnis“ als das schulisch vermittelte DDR-Bild und das „Arrangementgedächtnis“ als das privat vermittelte DDR-Bild zum Tragen kommen.2

Die hochkomplexe Frage nach der Vergleichbarkeit von Diktaturen greift sie auf, indem sie die eingeschränkte Kompetenz der Jugendlichen beobachtet, den Diktaturbegriff differenzierend zu nutzen. So stellt Kathrin Klausmeier heraus, dass nicht die Annahme, die DDR sei ein demokratischer Staat, die Jugendlichen zögern lässt, die DDR als Diktatur zu begreifen, sondern der direkte Vergleich mit dem Nationalsozialismus. Den Jugendlichen fehle es an begrifflicher Kompetenz, die verschiedenen Abstufungen einer Diktatur zu verstehen und korrekt anzuwenden. Daraus folgert sie Handlungsanweisungen zur Stärkung der Begriffsarbeit im Geschichtsunterricht. Mithilfe ihrer Vergleichsgruppen (Abiturient:innen aus Nordrhein-Westfalen und Berufsschüler:innen aus Thüringen) kann sie Hinweise darauf geben, dass es weniger die oftmals beschworenen Ost-West-Unterschiede sind, die die Einstellungen der Jugendlichen maßgeblich beeinflussen, sondern viel eher die Schulformunterschiede. Klausmeier greift Thesen älterer Studien auf, kommt auch teilweise zu ähnlichen Ergebnissen, zieht daraus aber immer wieder eigene Schlüsse. So bestätigen ihre Untersuchungen zwar, dass die vermeintliche schulische Leistung die DDR-Vorstellungen von Jugendlichen prägt. Anders als andere Forscher:innen beobachtet sie hierbei allerdings nicht eine generell negativere Einstellung leistungsstarker Schüler:innen zur DDR, sondern kommt viel mehr zu dem Schluss, dass leistungsstarke Schüler:innen die DDR differenzierter betrachten, also sowohl negative als auch positive Aspekte diskutieren können. Nachweisen konnte Klausmeier ebenfalls die zuvor in der Forschung implizit vermittelte Annahme, Gespräche innerhalb der Familie würden das DDR-Bild (vor allem ostdeutscher) Jugendlicher prägen. Dies wird deutlich im allgemeinen DDR-Bild: Jugendliche aus Familien mit vorwiegend positiver DDR-Erfahrung haben ein eher positives Bild des Staates, Jugendliche aus Familien mit Repressionserfahrungen zeigen ein eher negatives Bild der DDR. Auch die Erfahrung der Familien im Rahmen des Transformationsprozesses haben einen Einfluss auf das DDR-Bild der Befragten.

Die Ergebnisse und Skizzierung der Forschung in der Studie sind gut verständlich. Der größte Kritikpunkt liegt in der Wahl des Titels, der ohne die Kontextualisierung der semantischen Schwierigkeiten mit dem Diktaturbegriff dem von Klausmeier andernorts selbst kritisierten „Alarmismus“ in die Karten spielt. Davon abgesehen besticht das Buch durch einen für diese Thematik dringend benötigten sachlichen Ton, der die empirischen Befunde unterstreicht. Die Wahl der Schüler:innen-Zitate und deren Kontextualisierung zeugen zudem von einer Wertschätzung der Jugendlichen, die in vergleichbaren Studien oft zu kurz kommt.

Zu kritisieren wäre die Wahl der Kursnoten als Marker für historisches Denken. Wenngleich die Autorin selbst auf die Unzulänglichkeiten von Kursnoten als Kompetenzmarker eingeht, ist dies dennoch die Prämisse für alle Beobachtungen, die mit der Leistung der Jugendlichen zusammenhängen. Beachtenswert ist, dass die Interviews für die vorliegende Studie im Jahr 2013 geführt wurden. Die Rolle des wachsenden zeitlichen Abstands zur DDR (auch im Vergleich zu älteren Studien) wäre dabei sicherlich eine lohnenswerte Beobachtung gewesen. Da Klausmeier die Bedeutung der Familiengespräche für die Bildung eines DDR-Bildes herausgestellt hat, ist durchaus denkbar, dass eine anders von der Transformation betroffene Eltern- und Lehrer:innen-Generation auch ein anderes DDR-Bild vermittelt. Wer heute unterrichtet, kann auch nach 1989 geboren worden sein. Ihre aus den Beobachtungen gezogenen Handlungsvorschläge sind schlüssig und zeigen, dass die Autorin selbst im Schuldienst tätig ist. Besonders für die Vertiefung der Schulform- und Ost-West-Effekte wäre jedoch eine potenzielle Nachfolge-Studie mit größeren Gruppen an anderen Schulformen und in mehreren Bundesländern wünschenswert. Es stellt sich weiterhin die Frage, ob die beobachteten semantischen Defizite hinsichtlich des Diktaturbegriffs nur Schüler:innen betreffen oder ob die gleiche Beobachtung auch bei einer Großzahl Erwachsener zutreffen könnte. Das könnte eine Folgestudie ebenfalls untersuchen.

Die Dissertation von Kathrin Klausmeier ist für sich stehend eine inhaltlich reiche und wertvolle Auseinandersetzung mit einem viel diskutierten Thema, deren größte Stärke vor allem die gute wissenschaftliche Praxis und die konzise Formulierung von Beobachtungen ist. Ihre Ergebnisse sind für die historisch-politische und schulische Bildung hilfreich und sollten in der öffentlichen Debatte mehr Aufmerksamkeit erfahren.

Anmerkungen:
1 Monika Deutz-Schroeder und Klaus Schroeder, Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern – ein Ost-West-Vergleich, Stamsried 2008.
2 Martin Sabrow, Die DDR erinnern, in: ders. (Hrsg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 11–27.